Die Kälte Berlins hat mittlerweile minus 20 Grad erreicht, mein Naseninneres beginnt bereits zu erstarren, als wir uns über die kiesbestreuten Eisklumpen der Gehwege voranknirschen. Es ist mehr als dreimal kälter als dort, wo ich meine Cola kühle. In den Straßen sind nur jene, die unbedingt unterwegs sein müssen und die S-Bahn stellt eine wahre Zuflucht dar. An den zerkratzten Folien der Fenster fliegt frostige Verlassenheit vorüber, trostlos, wären da nicht diese Graffitis.
Fast wie Wildkräuter finden sie ihren Weg in jeden denkbaren Winkel, in jeden Spalt, der nur flach genug ist, um einer dritten Dimension Raum zu geben. Sie quetschen sich in halb zufällige Anordnungen, gefährlichster Umstände ihrer Ausführung zum Trotz. Es gibt vieles, das nicht die Farbe wert ist, die schludrig verspritzt wurde, aber es gibt auch die seltenen Edelsteine, die das gierig jagende Auge befriedigen.
Es scheint eine Art Natur – Gesetz inmitten dieser Rebellion und Freiheit zu geben. Die ´tags´ sind kurz, maximal 5, 6 Buchstaben, wegen des Platzes, der Komposition und der Geschwindigkeit, in der sie geschrieben werden müssen. Oft fehlen die Vokale, werden aber durch die Kraft der Konsonanten suggeriert: SMSH und FLSH. Obwohl die Sprache fast ausnahmslos Englisch ist, ist die die Schreibweise eher phonetisch: KRUSJ. Einige Buchstaben haben Gesichter, viele sind dreidimensional, es gibt sie nur groß, kräftig, dynamisch und vorlaut.
Die Geheimsprache fordert heraus, sie zu entziffern und zu bestimmen, was da zu verlassener Stunde vom Keim zu einer stolzen Äußerung des Lebens herangewachsen ist, nur in Gänze verstanden durch die engsten Vertrauten. Der Druck, der diese Zeichen möglich macht, ist viel mehr als nur komprimierte Luft. Es ist der kreative Geist, verkorkt durch unsere Gesellschaft, der aus den Spraydosen hervorbricht.